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Jagdverhalten vs. Aggressionsverhalten beim Hund

Mein Hund jagt. Mein Hund reagiert aggressiv gegenüber anderen Hunden oder Menschen.

Zwei Themen, die in der Hundeschule und Einzelcoachings sehr häufig auftauchen. Immer wieder kommt auch die Frage: «Was ist schlimmer: Jagdverhalten oder Leinenaggression?“

Eine pauschale Antwort darauf gibt es nicht. Was als „schlimmer“ empfunden wird, ist oft sehr subjektiv. es ist immer das Verhalten, das für den eigenen Hund am präsentesten ist.

Ich persönlich habe nun zwei Hunde, die beide Themen zeigen. Bei Jazz als Jagdhund natürlich ein ausgeprägtes Jagdverhalten, aber auch eine sehr starke Territorialaggression. Bei Rox – gerade anfangs – eine ziemlich starke Leinenaggression, dafür kaum Jagdverhalten.

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Leinenaggression bei Rox haben wir durch konsequentes, positives Training erstaunlich schnell in den Griff bekommen. Mit Geduld, Übung und ohne Druck.

Beim Jagdverhalten von Jazz hingegen war es ein längerer Weg: Nach über zwei Jahren gezieltem Training konnte ich sie schliesslich überall frei laufen lassen. Sicher, ansprechbar und ohne aversive Massnahmen. Die Territorialaggression bleibt hingegen eine Herausforderung, die im Alter sogar noch zugenommen hat.

 

Was ist Jagdverhalten beim Hund?

Jagen zählt zum stoffwechselbedingten Verhalten und ist genetisch tief verankert. Es besteht aus mehreren, festgelegten Sequenzen:

  1. Orientieren
  2. Fixieren
  3. Anschleichen
  4. Hetzen
  5. Packen
  6. Töten
  7. Fressen

Nicht jeder Hund zeigt alle Abschnitte. Je nach Rasse wurden spezifische Sequenzen durch Zucht verstärkt – etwa das Fixieren bei Border Collies oder das Packen bei Terriern. Diese Spezialisierungen haben mit der ursprünglichen Nutzung der Hunde zu tun.

Ausgelöst wird Jagdverhalten häufig durch Bewegung (laufendes Wild, fahrende Fahrräder), aber auch Gerüche oder Geräusche können als Reizauslöser wirken. Entscheidend: Das Verhalten ist nicht sozial motiviert. Der Hund zeigt keine Abneigung gegen das gejagte Objekt – es geht schlicht um die Erreichung eines Ziels (Beute).

Dabei wird Jagdverhalten als hochgradig selbstbelohnend erlebt:
Schon die ersten Phasen – etwa das Fixieren – lösen im Hund eine Dopaminreaktion aus. Das Gehirn „belohnt“ den Hund also, bevor überhaupt etwas „erfolgreich gejagt“ wurde. Das macht Training anspruchsvoll: Der Hund muss das Ziel nicht erreichen, um Jagderfolg zu erleben.

Jagdverhalten läuft in der Regel ohne vorherige Kommunikation ab. Das ist aus evolutionärer Sicht sinnvoll. Die Beute zu warnen, bringt kaum Jagderfolg.

Jagen gilt als genetisch fixiert, es dient dem Überleben und kann nicht so einfach weggezüchtet oder abgestellt werden.


Sonderfall «Fressen» und Futteraufnahme vom Boden

Viele Halter verwechseln das Aufnehmen von Futterresten mit Jagdverhalten. Tatsächlich gehört dies zum Ernährungsverhalten, nicht zur Jagdsequenz. Das Suchen und Sammeln von Futter ist ein natürliches Verhalten und bei wildlebenden Hunden und Wölfen ebenfalls zu beobachten.

Wichtig: Auch dieses Verhalten ist genetisch fixiert, aber nicht Ausdruck eines Jagdtriebs.

 

Was ist Aggressionsverhalten beim Hund?

Aggression beim Hund gehört zum Sozialverhalten. Es dient dem Schutz von z.B. Ressourcen, Territorium, Artgenossen oder dem eigenen Körper. Ziel ist es meist, Distanz zu schaffen oder einen Konflikt zu beenden.

Es ist kommunikativ und läuft häufig über eine Eskalationsleiter ab:

  • Drohen
  • Imponieren
  • Fixieren
  • Knurren
  • Schnappen
  • Beissen

Diese Signale zeigen, wie viel Regulation im Aggressionsverhalten steckt. Der Hund „warnt“. Im besten Fall wird der Konflikt deeskaliert, bevor es zur Attacke kommt.

Aggression ist in der Regel emotional negativ unterlegt: Angst, Unsicherheit, Frustration oder auch Überforderung spielen eine Rolle. Aber auch Aggression kann durch wiederholten Trainingseffekt verstärkt werden, wenn sie aus Hundesicht zum Erfolg führt („Ich belle – der andere geht weg.“).

Und genau da wird’s heikel: Aggression kann sich verselbständigen, wenn sie zur bevorzugten Strategie wird.

Achtung: Das heisst nicht, dass ihr euch jetzt aggressiv bellenden Hunden nähern sollt. Die Bearbeitung von Aggressionsthemen ist hoch komplex und muss immer von einem erfahrenen Trainer oder Trainerin begleitet werden. Am besten mit Absicherung des Hundes durch Leine und Maulkorb.

Aggressionsverhalten ist kommunikativ: Der Hund sendet in der Regel Signale, bevor es zu einer Attacke kommt. Diese Kommunikation fehlt – wie oben beschrieben – beim Jagdverhalten, dort erfolgt das Handeln meist ohne Vorwarnung.

Aggressionsverhalten zählt beim Hund – genau wie das Jagdverhalten – zum «Normalverhalten».

 

Typische Unterschiede auf einen Blick

 

Warum ist die Unterscheidung so wichtig?

Weil es für die Beurteilung des Hundes (sowohl im Alltag als auch im rechtlichen Kontext) entscheidend ist, welches Verhalten vorliegt.

Ein Hund, der z. B. einen anderen Hund oder ein Kind „jagt“ und verletzt, zeigt in vielen Fällen fehlgeleitetes Jagdverhalten. Die Trainingsansätze unterscheiden sich in diesem Fall fundamental. Wer das Verhalten falsch einordnet, trainiert am Problem vorbei oder verschärft es sogar.


Was ist nun schlimmer?

Hier kommt die Subjektivität ins Spiel.
Aggressionsverhalten wird oft als „sozial unangenehm“ erlebt – man fühlt sich beobachtet, beurteilt, manchmal beschämt. Gerade Frauen bekommen häufiger Sprüche wie:
„Du hast deinen Hund nicht im Griff.“
Was meist sachlich falsch und oft unfair ist.

Jagdverhalten hingegen löst oft mehr emotionale Belastung aus – besonders, wenn der Hund plötzlich verschwindet. Die Angst um sein Wohlergehen, die Sorge um Wildtiere, Strassenverkehr, Jäger. Das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. All das kann enorm belasten. Und das mit gutem Grund.

Beide Themen können im Alltag stark einschränken, die Frage „was ist schlimmer?“ ist daher immer individuell zu beantworten.

 

Stress als Verstärker

Sowohl Jagd- als auch Aggressionsverhalten können unter Stress deutlich zunehmen. Ein Hund, der innerlich unter Spannung steht – etwa durch dauerhafte Reizüberflutung, zu wenig Schlaf, gesundheitliche Probleme oder Überforderung im Alltag – zeigt Verhaltensweisen oft intensiver oder impulsiver.

Darum gehört zur Verhaltensanalyse immer auch ein genauer Blick auf den sogenannten Hintergrundstress. Wird dieser nicht erkannt oder ignoriert, kann Training ins Leere laufen, oder das Verhalten sich sogar verschlimmern.

Gerade Jagdverhalten hat zudem ein hohes Suchtpotenzial: Die Dopaminausschüttung während der Jagd wirkt wie ein Kick. Manche Hunde geraten regelrecht in einen „Tunnel“, aus dem sie schwer wieder rauskommen. Auch deshalb ist das Training in diesem Bereich oft anspruchsvoll und erfordert Geduld, Management. Und realistische Erwartungen.

 

Fazit

  • Jagd- und Aggressionsverhalten sind zwei eigenständige, biologisch funktionale Verhaltenssysteme.
  • Sie unterscheiden sich in Motivation, Auslösung, Emotion und Kommunikation.
  • Wer diese Unterschiede versteht, kann gezielter trainieren, fairer beurteilen und seinem Hund gerechter werden.

 

Wichtiger Hinweis zur Trainingspraxis

Sowohl beim Training von Jagdverhalten als auch beim Umgang mit Aggressionsverhalten sollte immer eine erfahrene Fachperson hinzugezogen werden. Idealerweise jemand, der gewaltfrei und ohne aversive Methoden arbeitet.

Druck, Bestrafung oder gar Gewalt können beide Verhaltensweisen massiv verschlimmern.

Gerade sehr sensible Hunde entwickeln aus Angst oder Unsicherheit heraus Aggressionsverhalten. Ein verständnis- und respektvoller Umgang und ein individuell angepasstes, kleinschrittiges Training sind hier elementar, um Vertrauen aufzubauen, ohne den Hund zu brechen.

Eine von vielen Studien, die die negativen Auswirkungen aversiver Trainingsmethoden wissenschaftlich belegen, findet sich hier:
🔗 Study on Aversive Training Methods (2020) – PMC

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